Ich möchte hier auch nochmal eine dringende Empfehlung für das wunderbare Buch aussprechen, das ich zur Zeit lese: "
Miami Punk" von Juan S. Guse (Transparenz: Der Autor ist ein Bekannter von mir, also auch ein bisschen Werbung in dieser Hinsicht – das Buch ist aber auch so
schon nicht unbekannt und hätte es eig. nicht nötig...insofern).
Für mich vielleicht das interessanteste, pulsierendste Buch der letzten Jahre. Es geht um die Stadt Miami, der vor einiger Zeit ihre eigene Lebensgrundlage entzogen wurde, weil sich der Atlantik über Nacht plötzlich von der Küste weg und bis hinter die Bahamas zurückgezogen hat. Vor Miami ist nun nichts als Wüste, die vom Militär abgeriegelt wird. Die Stadt selbst verfällt zunehmens, Massenarbeitslosigkeit, Alligatorenplagen, Rückzug in digitale Welten.
Das Buch ist Puzzelartig aufgebaut und verfolgt in verschiedensten Stilen diverse Menschen durch den Organismus einer zerfallenden Stadt. Eine junge Gamedesignerin, die für Lohn und Brot einem Bullshitjob in einem globalen Life Science-Konzern nachgehen muss, ein CS1.6.-ESports-Team aus Wuppertal, das für das letzte große Tunier in einem verschwindenden Spiel anreist, ein quasi-anarchistischer, spiritualistischer, esoterischer Kongress, dessen Mitglieder sich an der Erforschung der Umstände des Ozeanrückzugs versuchen und sich dazu konspirativ in einer riesigen, fast mythisch aufgeladenen Beton-Bauruine treffen (die einem meiner Lieblingsorte Hannovers, dem Ihmezentrum, nachempfunden wurde...und es passt sooo gut), einem der vielen "Ringer"-Vereine, die sich der Bekämpfung der Alligatorenplage verschrieben haben, einem riesigen Pizza-Dienst, der nebenher die Bürger der Stadt ausspioniert., einem Familienvater, der – wie zigtausende von einer Art "Schlaf befallen – immer weiter normal zur Arbeit in den Docks fährt, obwohl seine Firma nach dem Rückgang des Meeres schon längst nicht mehr existiert und der eigene Briefkasten überquillt wegen all den Mahnungen. Und noch so viele mehr.
Wie für gute Science Fiction üblich geht es natürlich am Ende um unser Hier und Jetzt und nicht wirklich um eine abstrakte Zukunft. Wir folgen Figuren in die Trostlosigkeit unendlicher digitaler Welten, während die begrenzten Welten vor den Wohnungsfenstern verfallen. Es geht darum, wie wir zusammenleben, wie unsere Welt aussehen könnte, wenn Klimawandel und Digitalisierung schon heute an der Türschwelle stehen, um die Veränderungen in der Arbeitswelt, um Bullshitjobs, um die Militarisierung der Polizei. Aber pessimistisch ist das Buch nicht. Immer wieder taucht auch die Suche nach dem Menschen und Menschlichkeit inmitten dieser unwirklichen Welt auf – und spendet etwas Hoffnung.
Auf dem Buchrücken steht, glaube ich, soetwas wie "Was David Foster Wallce für das Tennisspiel getan hat, tut dieser Roman für Gaming" – und das passt irgendwo auch ganz gut. Guse ist Soziologe und man merkt diesen Blick der Geselschaftsvermessung definitiv. Die Figuren und die Welt atmen aber trotzdem immer auch für sich und sind nicht bloße Platzhalter soziologisch-theoretischer Ideen inmitten eines riesigen Mischmaschs aus popkulturellen Referenzen.
Definitiv nicht einfach zu lesen und nichts für einen enstspannten Leseversuch kurz vor dem Schlafengehen (600+ Seiten). "Wunderbar schwer verdaulich" heißt es im DLF – und das trifft es. Allein durch all die Stilwechsel ist der ganze Roman sehr fragmentiert: Klassische Erzählung, Therapieprotokolle, Vorträge, Auszüge aus fiktiven Doktorarbeiten, minutiös und en detail nacherzählte Gaming-Partien... Einen klassischen Plot, soetwas wie Sinn in einer chaotischen, melancholischen Welt, sucht man lange vergebens – und das ist auch gut so. Erst am Ende werde die vielen Stränge langsam verbunden.
Also, wenn man auch nur irgendetwas mit kluger Science Fiction und experimentelleren, pulsierenden Herangehensweisen ans Schreiben anfangen kann: Zuschlagen.
PS: Das Buch sieht auch sehr schön aus.
