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Dr. Alexander Will
09.05.2019, 17:23 Uhr
Meinung
Wien - Wer heute durch Europa reist, begegnet allenthalben dem Wort „Identität“. In Polen kämpft die deutsche Minderheit um die ihre. In Ungarn will der Regierungschef die „christliche und nationale Identität“ seines Landes erhalten, und überall fragen sich Europäer, wo sie sich eigentlich in Zeiten von EU-Integration und steigenden Einwandererzahlen selbst verorten; was ihre Identität darstellt.
Ideologisch-politisch herrscht babylonische Verwirrung: Die Linke wie die Rechte versucht, das Thema mit aller Macht zu besetzen. Die Linke betreibt Identitätspolitik, indem sie bestimmte Gruppen nach sozialen, ethnischen oder sexuellen Merkmalen identifiziert und versucht, den politischen Einfluss solcher Gruppen massiv zu verstärken. Wer nicht dazu gehört, hat Pech gehabt: Er ist ausgeschlossen, muss Benachteiligung hinnehmen oder wird gar als repressiv identifiziert und bekämpft.
Auf der Rechten hat sich andererseits eine Bewegung gebildet, für die „Identität“ sogar namensgebend ist – die Identitären eben. Das Gesicht dieser Bewegung, die inzwischen in fast allen europäischen Ländern auftritt, ist der Österreicher Martin Sellner (30). Er ist aktuell wohl einer der umstrittensten Männer des Kontinents. Die einen hassen Sellner. Für sie ist er ein Nazi und Quasi-Terrorist. Andere vergöttern ihn fast schon. Für sie ist er jemand, der Wahrheiten ausspricht, theoretisch unterfüttert und öffentlichkeitswirksam verkauft.
Martin Sellner ist ein durchaus vorsichtiger Mensch, was Journalisten angeht, hat er doch vor allem schlechte Presse. Wenn er aber redet, dann blitzgescheit, zur Sache, auf den Punkt und immer reflektiert. Da braucht es keine ideologische Übereinstimmung, um dies anzuerkennen. Sellner ist dabei ein angenehmer Gesprächspartner, denn mit Widerspruch und Fragen kann er umgehen. Das Theoretische trennt er bei dem Gespräch in einem Wiener Café vom Persönlichen und legt Wert auf Höflichkeit – Tugenden, die in Zeiten, in denen das Auf-den-Mann-Gehen in der politischen Öffentlichkeit die Regel geworden ist, fast verschwunden sind.
Rechts von der Mitte
Also Herr Sellner – sind Sie ein Rechtsradikaler? Martin Sellner zuckt. Nein, er sei weder rechtsextrem noch rechtsradikal. Das „Brennglas dessen, was Politik ist,“ habe sich weit nach links verschoben, so dass Forderungen, die einst Konsens gewesen seien – etwa regulierte Einwanderung – heute im Geruch des Radikalismus stünden: „Ich sehe mich rechts der Mitte, aber ich sehe die Mitte inzwischen so weit links, dass mein rechts der Mitte nach objektiven und historischen Maßstäben weder radikal noch extremistisch ist.“
Die politische Linke argumentiert erstaunlicherweise genauso. Es ist hier wie in einem Spiegel: Nur wenige Stunden zuvor hatte mir die SPÖ-Politikerin Andrea Brunner im Wiener Hauptquartier der Sozialdemokraten gesagt, dass es frappierend sei, wie rechte Themen, die vor zwei bis drei Jahren noch „No Gos“ gewesen seien, heute im Mainstream angekommen sind. Der habe sich deutlich nach rechts verschoben. Martin Sellner und seine Identitären hält sie für gefährlich, weil diese es schafften „ihre Positionen zum Mainstream zu machen“ und sogar in die Politik der österreichischen Regierungsparteien aus konservativer ÖVP und rechtsnationaler FPÖ einzubringen. „Sonst sind es teilweise Spinner“, sagt Brunner.
Erklärungsversuch
Darüber, wie gefährlich die Identitären sind, wird dieser Tage in Österreich heiß diskutiert. Martin Sellner hat nämlich eine Spende von einem Mann namens Brendon Tarrant erhalten – und das ist der Attentäter von Christchurch. Den verabscheut Sellner allerdings, das ist deutlich in seinem Gesicht zu lesen, als er sagt: „Ich finde sein Denken widerlich. Ich halte es für pervers, dass er wirklich der Ansicht ist, legitimiert zu sein, Leute umzubringen.“ Die Spende von 1500 Euro sieht Sellner als Versuch, „friedliche, aktivistische, patriotische Sammelbewegungen“ durch staatliche Repression unter Druck zu setzen und so zu radikalisieren, dass sie zur Gewalt greifen. Was an der Affäre dran ist, werden nun die Ermittlungen zeigen. Die laufen gegen Sellner und führten unter anderem zu Durchsuchungen und Beschlagnahmungen in seiner Wohnung.
Der 30-Jährige ist der Sohn eines Arztes und einer Lehrerin. Er studierte Philosophie und fühlt sich besonders von Martin Heidegger angesprochen. Er sieht sich als „Metapolitiker“. Und in der Tat theoretisiert Sellner an diesem Nachmittag viel. Das kann man als Alleinstellungsmerkmal der Identitären im rechten Raum sehen. Man versucht, theoretische Konzepte zu entwickeln und sie mit öffentlich sichtbarem Aktivismus zu verbinden. Letzteres erinnert vielfach an Kopien von Greenpeace-Aktionen. Das Theoriedefizit gegenüber der politischen Linken wird auf der Rechten dagegen schon lange beklagt.
Und wie sieht Theorie bei Sellner und seinen Leuten aus? Natürlich steht im Mittelpunkt die „Identität“ des Menschen. Sellner erklärt etwas, das er „Drei-Ebenen-Konzept“ nennt: „Es gibt die regionale, die nationale und die zivilisatorische, übernationale Identität. Für uns sind die alle komplementär.“ Und dann sagt Sellner: „Ich bin kein Nationalist.“ Nationalismus schneide die anderen Ebenen der Identität ab und verkürze so den Menschen. Sellner schwebt stattdessen eine „generationsübergreifendes Wir“ als Kitt einer Gesellschaft vor, „indem ich sagen kann ,Wir haben Mozart hervorgebracht.‘, ,Wir haben in Cordoba gegen Deutschland gewonnen‘“.
Kampf um einen Begriff
Jenseits der politischen Theologie äußert sich das politisch-praktisch vor allem in Ablehnung von Masseneinwanderung. Sellner benutzt an dieser Stelle den von Verschwörungstheoretikern aller Couleur gern verwendeten Begriff vom „Großen Austausch“ – auf den sich übrigens auch der Christchurch-Attentäter bezog. Sellner sagt, er verstehe diesen Begriff völlig anders, nämlich in der ursprünglichen Bedeutung und wolle ihn sich in der Debatte auch nicht nehmen lassen: „Wir verstehen darunter ein Zusammenspiel von Masseneinwanderung, sinkender Demografie hier und der Politik des Multikulturalismus.“
Das bedeutet: Sellner fürchtet die Zerstörung des existierenden „generationsübergreifenden Wir“ durch Einwanderer bei gescheiterter Integration und Assimilation. Und da wird’s gelegentlich regelrecht apokalyptisch angesichts der Angst vor Islamisierung und vor der Umwertung alles Bestehenden. Da gehen auch einmal Maß und Mitte verloren.
Wer also nach Netzwerken der Identitären sucht (Sellner: „Netzwerke weben sich von selbst, wenn man ähnliche Ideen und Ansichten hat.“), wird genau wegen dieses Charakters der Identitären-Bewegung auf der Spur des Theoretisierens erfolgreicher sein, als auf der Christchurch-Spur. Enge Beziehungen in Deutschland hat Martin Sellner zu Götz Kubitschek, einem der bedeutendsten Verleger und Theoretiker sowie einer intellektuellen Integrationsfigur der Neuen Rechten. Zudem trat Sellner bei Pegida und dem – allerdings durch unterirdisches intellektuelles Niveau auffallenden – Magazin Jürgen Elsässers, „Compact“, auf.
Kollektiv vor Individuum
Martin Sellners Ideen sind so keineswegs ein Neuaufguss von „Mein Kampf“, wie es gelegentlich nahegelegt wird. Sie sind streitbar – und genauso gut auch bestreitbar. Vor allem aber sind sie kollektivistisch. Das bedeutet, sie stellen eine statische, allein schon wegen ihrer historischen Wurzeln als erhaltenswert angenommene, kollektive Identität über die individuelle. Das führt natürlich für den Einzelnen immer zum Zwang, sich den Normen dieser als letztlich unveränderlich betrachteten kollektiven Identität anzupassen. Wer das nicht tut, ist ausgeschlossen. Individuelle Entwicklung jenseits des als normativ postulierten „generationsübergreifenden Wir“ wird so behindert, schwierig, ja unmöglich, auch wenn das „kollektive Wir“ vielleicht dringend einer Überholung bedarf. Da bleibt dann trotzdem nur die Wahl: Friss oder stirb.
Linke und rechte Identitätspolitik laufen hier im Gleichschritt. Beide betrachten die „Innen-Gruppe“ letztlich als homogen und formulieren Kriterien für Zugehörigkeit. Wer die Merkmale nicht erfüllt, ist eben draußen. Das mag bei einem Schwimm- oder Basketballverein noch angehen. Als Fundament einer politischen Ordnung taugt es jedoch nicht – wenn man den Einzelnen und seine freie Entscheidung für oder gegen Bindungen konsequent als Maß der Dinge nimmt.