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Was lest ihr gerade?

Von Spam bis Gott und die Welt
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Monkeyson
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Monkeyson » Di 20. Jul 2021, 12:29

slowdive hat geschrieben:
Di 20. Jul 2021, 12:01
Ich möchte hier auch nochmal ein dringende Empfehlung für das wunderbare Buch aussprechen, das ich zur Zeit lese: "Miami Punk" von Juan S. Guse (Transparenz: Der Autor ist ein Bekannter von mir, also auch ein bisschen Werbung in dieser Hinsicht – das Buch ist aber auch so schon nicht unbekannt und hätte es eig. nicht nötig...insofern).
Das klang damals in der ZEIT schon sehr vielversprechend, wollte ich mir eigentlich merken. Danke für die Erinnerung!
https://www.zeit.de/2019/21/juan-guse-a ... ele-gaming
(Bezahlschranke, daher vllt lieber über slowdives Perlentaucher-Link)

Wobei mich das...
slowdive hat geschrieben:
Di 20. Jul 2021, 12:01
Auf dem Buchrücken steht, glaube ich, soetwas wie "Was David Foster Wallce für das Tennisspiel getan hat, tut dieser Roman für Gaming" – und das passt irgendwo auch ganz gut.
...eher davon abhalten sollte. :grin:

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slowdive
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von slowdive » Di 20. Jul 2021, 12:34

Monkeyson hat geschrieben:
Di 20. Jul 2021, 12:29
Wobei mich das...
slowdive hat geschrieben:
Di 20. Jul 2021, 12:01
Auf dem Buchrücken steht, glaube ich, soetwas wie "Was David Foster Wallce für das Tennisspiel getan hat, tut dieser Roman für Gaming" – und das passt irgendwo auch ganz gut.
...eher davon abhalten sollte. :grin:
Es ist schon seeeeehr anders in vielerleih Hinsicht. Don't worry. :smile:

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MairzyDoats
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von MairzyDoats » Di 20. Jul 2021, 13:19

Das wurde mir auch schonmal empfohlen und ist seitdem auf der sehr langen Liste. Allerdings bin ich in letzter Zeit eher an recht leichter Lesekost interessiert, da ich ansonsten schon den ganzen Tag den Kopf sehr anstrenge. Ich müsste aber demnächst mal wieder einen Post mit den Highlights machen, weil ich in letzter Zeit wieder richtig viel Spaß am Lesen habe. :smile:
Hallo wie geht willkommen in meiner Signatur. Lass dir hier bitte richtig gut gehen einfach, Käffchen für dich

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Taksim
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Taksim » Di 2. Nov 2021, 12:37

Gerade beendet: Jonathan Franzen - Crossroads

In seinem neuesten Roman folgt Franzen einem ähnlichen Pattern wie in "Die Korrekturen" indem er detailliert dokumentiert, wie die Mitglieder einer Familie Stück für Stück immer unglücklicher werden und sich mit ihren seelischen Abgründen auseinandersetzen. Das passiert formell, ebenso wie in seinem bekanntesten Werk, zeitlich parallel mit vielen Perspektivwechseln zwischen den Eltern sowie drei der vier Kinder der Pastoren-Famlilie Hildebrandt.
Aufgrund der Profession des Vaters sind diese inneren moralischen Konflikte häufig mit einer dezidiert religiösen Note versehen. Wo "Die Korrekturen" seine Charakterentwicklungen in den Kontext weltgeschichtlicher Ereignisse wie Finanzkrisen steckt, bestehen die größeren Bögen hier aus Rückgriffen zu Texten der Bibel sowie anderen spirituellen Glaubensrichtungen. wie die Praktiken eines Ureinwohner-Stammes, denen die titelgebende Kirchengruppe "Crossroads" bei einem jährlichen Trip zu einem Reservat in Arizona näher beleuchtet.

Erneut hat Franzen ein fantastisches Händchen dafür, Selbstsabotage aufs Papier zu bringen, die einen als Leser absolut mitleiden lässt. Ebenso gewohnt wie immer werden seine Charaktere unheimlich plastisch, diesmal vielleicht sogar noch mehr als sonst, da sie bedeutend weniger exzentrisch (bis auf einen der Söhne Perry vielleicht), sondern eigentlich schmerzhaft bieder sind. Welche Tiefen er dann in den Psychogrammen findet ist aber wirklich beeindruckend, gerade weil die Konflikte eigentlich recht konventioneller Natur wie Ehebruch; erstes Verliebtsein; mit jemanden zusammenkommen, der noch in einer Beziehung ist; Hingabe und Opferbereitschaft versus Priorisierung seines eigenen Glückes und ähnliches.

Zu den Eltern Russ und Marion gibt es zudem sehr ausführliche Flashbacks zu ihrem Werdegang, die absolut helfen, ihre Handlungen in der Gegenwart des Romans (er spielt in den frühen Siebzigern, womit er auch ein schönes Stück Zeitgeschichte ist) nachzuvollziehen. Doch die können teilweise etwas langgezogen wirken. Gerade der Abschnitt zu Russ ist ein deutlich längeres Kapitel als anderen und das nimmt dem Roman etwas seinen Rhythmus. Am Ende wird ein großer Zeitabschnitt auch etwas abrupt behandelt, was sehr im Kontrast dazu steht, dass die erste Hälfte des Buches quasi nur ein Tag ist, der von den verschiedenen Perspektiven der Charaktere beleuchtet wird (was wiederum genial konstruiert ist und einiges über die Limitationen von einseitiger Wahrnehmung zu sagen hat).
Davon ab wird man aber durch klugen moralischen Fragen und den typischen düsteren Witz flüssig durch den nicht kurzen Roman getragen.

Das ganze ist als Trilogie angelegt und ich freue mich jetzt schon auf die nächsten beiden Teile!

Edit: Angesichts dessen dass "The Corrections" 2001 rauskam, natürlich nicht die Finanzkrise, aber eine Finanzkrise.
Zuletzt geändert von Taksim am Fr 5. Nov 2021, 08:16, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Quadrophobia » Di 2. Nov 2021, 13:12

Ich hab zuletzt "Extremely Loud & Incredibly Close" von Jonathan Safran Froer gelesen und ich glaube mich hat lange kein Buch mehr so angestrengt. Habe danach versucht den Hype nachzuvollziehen und bin auch nicht klüger geworden. Mal eine Skizze von allem was mich gestört hat:

- Alles könnende Kinder sind keine guten Protagonist:innen.

- Die Druckweise mit Bildern, Schreibfehlern, Ein-Satz-Pro-Seite Seiten, gekritzel etc. ist Style over Substance der schon nach 50 Seiten völlig abnutzt

- Der eigentlich ganz witzige Main Plot der Geschichte wird ständig von teils völlig langweiligen Nebenerzählungen aus dem Fluss gebracht

- Die Auflösung des Main Plots ist ein Witz

- Das Stilmittel, verschiedenen Figuren einen stark unterschiedlichen Sprachduktus zu geben ist völlig übertrieben

- Muss jede Familiengeschichte der modernen Literatur irgendwelche Wurzeln im zweiten Weltkrieg haben?

- Teils wird die Geschichte komplett wahnwitzig, soll das magischer Realismus sein?

Aktuell dann mit City of Glass die New York Trilogie von Paul Auster angefangen. Wieder eine Quichote Reise durch New York, diesmal allerdings ansprechend kurz und pointiert, wenn auch nicht minder verwirrend, vor allem durch die Figurenkonstellation. Hat zwar massig Spaß gemacht, ist aber glaube ich mit seiner Intertextualität und seinem psychoanalytischen Gerüst etwas zu hoch für mich.

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von smi » Di 2. Nov 2021, 14:15

Quadrophobia hat geschrieben:
Di 2. Nov 2021, 13:12
"Extremely Loud & Incredibly Close" von Jonathan Safran Froer
Fande ihn gut, ist aber auch schon über 10 Jahre her. Fällt aber zu "Everything Is Illuminated" auch für mich stark ab.

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Taksim » Fr 5. Nov 2021, 08:20

smi hat geschrieben:
Di 2. Nov 2021, 14:15
Quadrophobia hat geschrieben:
Di 2. Nov 2021, 13:12
"Extremely Loud & Incredibly Close" von Jonathan Safran Froer
Fande ihn gut, ist aber auch schon über 10 Jahre her. Fällt aber zu "Everything Is Illuminated" auch für mich stark ab.

smi
Ich mochte den ebenso, vor allem auch die metanarrativen Spielereien mit dem Design der Seiten und die Art, wie der Roman das Medium Buch als Ganzes nutzt.
"Everything is Illuminated" ist bei mir auch schon eine Ecke her, aber ich hab den recht fragmentiert in Erinnerung, sodass die Hauptgeschichte und die Abzweigungen in jüdische Mythologie nie so richtig zusammmenkamen. Aber vielleicht war ich auch einfach nicht bereit dafür.
Seinen dritten "Here I Am" mochte ich ja auch sehr.
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Declan_de_Barra » Fr 5. Nov 2021, 08:23

Ich habe Everything Is Illuminated bis jetzt nie durch bekommen, obwohl sehr oft angefangen. Obwohl mir das Thema eigentlich sehr liegen müsste. Vorsatz fürs neue Jahr. Extremely Loud & Incredibly Close hab ich vor ein paar Jahren gelesen und mochte das ziemlich gerne, glaube aber, dass das nun nicht mehr ganz so aussehen würde und kann Quadros Kritik teilweise nachvollziehen.

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von smi » Fr 5. Nov 2021, 08:40

Die Sachbücher von ihm (Foer)
Tiere Essen / Eating Animals
Wir sind das Klima! / We Are the Weather
haben mir beide sehr gut gefallen. Auch wenn man mit dem Thema Ernährung in Bezug auf Tierwohl und Klima (zumindest für mich) nicht unbedingt viel neues war.

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Taksim » Do 9. Dez 2021, 09:41

Mein Projekt der letzten Wochen: Unendlicher Spaß

Und es ist so verrückt wie erwartet. Fordernd bis überfordernd, eine Kakophonie an Vokabular, ein achtarmiger Kraken an Storylines, die alle hoch runter links recht kreuz und quer gehen, beißende Satire gemischt mit surrealen Elementen, ein immer wieder unerwarteter, aber doch pointierter Humor und dazu auch (ebenso unerwartet in diesem stilistischen Overkill) Passagen emotionaler Ehrlichkeit.

Letzteres sind für mich die besten Abschnitte, wenn es schonungslos und nüchtern über Themenkomplexe wie Depression und Sucht geht. Da findet Foster Wallace sehr treffende Bilder und er dreht den sprachlichen Wahnsinn runter, wodurch man als Leser wirklich mitfühlt. Das passiert sonst in diesem Buch nicht wirklich.

Das in Kombination mit dem überhitzten Vokabular steht dem Werk dann ein bisschen im Weg. Im Kern steckt viel drin und trotz dieser Irrungen und Wirrungen gibt es auch einige Szenen, die so Eindruck machen, dass sie beim Leser bleiben. Aber manche Abzweigung wirkt doch häufiger arg zum Selbstzweck oder als literarische Übung und nicht als Teil eines kohärenten Werks.

Es entwickelt aber auch in dem komplizierten Passagen eine Art Sog, der einen durchaus mitzieht, fast schon hypnotisch. So oder so, ob man es mag oder nicht, definitiv eine ziemlich einzigartige, eigenartige, eigensinnige Leseerfahrung.
slowdive hat geschrieben:
Mo 12. Apr 2021, 17:14
Monkeyson hat geschrieben:
Fr 26. Feb 2021, 20:55
smi hat geschrieben:
Fr 26. Feb 2021, 12:23
Später:
David Foster Wallace - Unendlicher Spaß/Infinite Jest
Das hat mir irgendwie gar nichts gegeben.
Wurde hier auch schon irgendwo besprochen, jemand anderes war arg pro.
Eines der besten Bücher aller Zeiten. Hier wird unsere Gegenwart tasächlich so genial getroffen, wie wohl nirgens sonst – und das im Jahre 1996.
Magst du das vielleicht ein bisschen ausführen? Würde mich interessieren.
Zuletzt geändert von Taksim am Do 9. Dez 2021, 10:59, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Monkeyson » Do 9. Dez 2021, 10:48

Taksim hat geschrieben:
Do 9. Dez 2021, 09:41
Aber manche Abzweigung wirkt doch häufiger arg zum Selbstzweck oder als literarische Übung und nicht als Teil eines kohärenten Werks.
Witzig, ich hatte genau dasselbe geurteilt:
Monkeyson hat geschrieben:
So 8. Okt 2017, 12:05
Schon toll geschrieben, aber es ist [...] ganz so, als hätte man sich durch eine mit lauter Kostproben gespickte Bewerbungsmappe für die Position als Schriftsteller gearbeitet.
Hab leider nicht durchgehalten und kann daher das Positive nicht ebenso unterstreichen.

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von smi » Do 9. Dez 2021, 11:16

Eine KI hat ein Thesaurus vorgelegt bekommen und schreibt nun ein Buch...

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Quadrophobia » Do 9. Dez 2021, 11:53

smi hat geschrieben:
Do 9. Dez 2021, 11:16
Eine KI hat ein Thesaurus vorgelegt bekommen und schreibt nun ein Buch...

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von smi » Do 9. Dez 2021, 12:07

Bezog sich auf Unendlicher Spaß

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Taksim » Di 21. Dez 2021, 12:52

Gerade beendet: We Begin at the End von Chris Whitaker

Ich lese nicht viel Krimis und deshalb zog die Lobpreisung "The crime novel of the year" nicht wirklich meine Aufmerksamkeit auf das Buch. Die weiteren Kritiker und Autorenstimmen, die die Charakterzeichnung und Sprache lobten, hatten mich da schon eher neugierig gemacht.

Und meine Güte, sie haben nicht untertrieben!

Erstmal verstehe ich, dass man mit einem klaren Label wie "Krimi" viele Leute zum Kauf bewegt, aber für mich ist das Verbrechen in der Geschichte nicht der Dreh- und Angelpunkt. In der Tat stehen viel mehr die Charaktere, vor allem die umwerfende Protagonistin Duchess Day Radley, im Vordergrund. Sie ist im Zentrum eines Netz aus Charakteren, die durch ein tragisches Ereignis vor 30 Jahren verknüpft sind, das sich in einer kleinen kalifornischen Stadt ereignet hat.
Das ist der nächste extrem starke Aspekt des Buches. Es hat einen unheimlich feines Gespür für die Umgebung. Die kleine Stadt erwacht vor den eigenen Augen zum Leben und die Dynamiken zwischen den Bewohnern werden alle sofort transparent und nachvollziehbar.
Das ganze wird durch das ganz große Pfund ermöglicht, nämlich die Sprache. Unheimlich effizient, mit ganz wenigen Worten, wird sehr, sehr viel gesagt. Der Autor lässt so viele Zwischenräume, so viel ungesagt, aber jede Emotion jedes Charakters bricht sich im Leser Bahn. Dazu passt der nüchterne Stil hervorragend zu der kargen Kleinstadt und den vom Leben abgehärteten Charakteren. Darüber hinaus, und das finde ich bei so nüchternen Sprachstilen eher selten, kann Whitaker sehr elegant mit Redewendungen und fixen Floskeln umgehen (ich hab mal aus Spaß ein paar dieser Wendungen in der deutschen Übersetzung nachgeguckt; die gehen leider verloren). Auch auf einen Songtitel wird auf so geniale Weise angespielt, ich bin immer noch hin und weg.

Passend zu der Kleinstadtatmosphäre und der Weite der Natur ringsherum, etabliert sich mit zunehmender Länge auch ein Westernmotiv, mit den klassischen Motiven von Rache und Vergeltung. Gleichzeitig ist es aber auch eine Abhandlung über den Lauf der Zeit und den Wandel der Persönlichkeiten. Der zweite Hauptcharakter Chief Walker hat damit vor allem zu kämpfen und hängt immer noch an seinen Jugendtagen, als er mit seinem besten Freund Vincent, der mittlerweile seit 30 Jahren im Knast sitzt und kurz vor seiner Freilassung ist, und der Stadtschönheit Star (Duchess' Mutter), die mittlerweile mittellos irgendwie versucht sich und ihre Familie über Wasser zu halten und doch zu häufig die Flucht in Alkohol und Drogen vorzieht, die Sommer verbrachte.

Wie die Charaktere sich ihren düstersten emotionalen Abgründen stellen und sich immer die Frage stellt, ob sie daran zugrunde gehen oder daran wachsen können, ist absolut packend und ergreifend. Vielleicht habe ich da auch falsche Vorbehalte, aber sowas, genau wie die sprachliche Präzision und Gewieftheit, erwarte ich in einem Krimi eigentlich nicht. Aber dann ist das hier auch absolut kein normaler Krimi.
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Ruby » Di 28. Dez 2021, 20:17

1918 - Die Welt im Fieber: Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte von Laura Spinney

Und ja, es gibt Parallelen. Sehr interessant zu lesen.
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Flecha » Mi 29. Dez 2021, 17:55

Habe zum Geburtstag die Dune-Reihe bkeommen. Mal sehen, wie lange ich brauche. :mrgreen:

Höre dazu nebenbei bei Spotify High-Rise von James Graham Ballard. Das wird von Tom Hiddleston gelesen und ich liebe es, ihm zuzuhören.
Last.fm!
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Quadrophobia » Mi 29. Dez 2021, 17:58

Flecha hat geschrieben:Habe zum Geburtstag die Dune-Reihe bkeommen. Mal sehen, wie lange ich brauche. :mrgreen:

Höre dazu nebenbei bei Spotify High-Rise von James Graham Ballard. Das wird von Tom Hiddleston gelesen und ich liebe es, ihm zuzuhören.
Ballard einfach fantastisch! Vllt geb ich mir das auch noch mal als Hörbuch

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slowdive
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von slowdive » Mo 24. Jan 2022, 12:51

Ich pack es mal hier hinein, weil es Literatur als Ausgangspunkt zum Denken nutzt, im Grunde lässt es sich aber auch auf viele andere Formen der Popkultur übertragen (Filme, Serien, Games, Theater, mittlerweile auch Musikvideos): Vor ein paar Tagen hat Parul Sehgal im New Yorker einen vielfach diskutierten Text geschrieben, der auf etwas abzielt, dass auch mich schon lange nervt: Die Tendenz zeitgeistiger (Pop-)Kultur, den ohnehin schon nervigen Hang alles und jeden zu Überpsychologisieren in noch schlimmere Gefilde zu überführen und nun alles und jeden zu "traumatisieren" und das Kunstwerk als Therapiemaßnahme zu konzipieren. Statt interessante Konzepte und Ideen zu entwickeln oder wenigstens wirklich komplizierte Charaktere zu umreißen, gibt man Person X einfach ein traumatisches Ereignis Y, das in der Vergangenheit liegt, an die Hand, enthüllt dieses nach und nach und, zack, die "Charaktertiefe" schreibt sich ganz von selbst. Der neue James Bond war da ein Ärgerliches Beispiel ("Jammerlappen-Bond" hat Wolfgang M. Schmitt das passenderweise genannt") oder halt fast jede Serie der letzten Jahre, in denen es, egal welches Setting man zu Grunde legt, irgendwann doch wieder nur um Vaterkomplexe und Gewalt-Traumata der Vergangenheit geht (z.B. die nicht unbedingt absolut schlechte, aber total ärgerliche Serie "For All Mankind", "Lefovers" und und und...). Abgesehen von ästhetischer Langweile, wirft das natürlich auch moralische Fragen auf, wenn Traumata als "Instrument der Spannungserzeugung" benutzt werden.

Aus gegenwärtiger Literatur kenn ich das ganze tatsächlich nur bedingt, einfach da ich so preisgekrönte, "wichtige", bürgerliche Feuilleton-Literaturhaus-Literatur schon lange ziemlich uninteressant finde und daher meide, aber gerade in audio-visuellen Medien geht mir das schon lange auf den Zeiger.

Dementsprechend hier eine Empfehlung für den langen Text im New Yorker und die ebenfalls sehr gute, etwas kompaktere Behandlung des Themas durch Johannes Franzen in der Zeit.

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Monkeyson » So 20. Mär 2022, 22:55

Monkeyson hat geschrieben:
Do 9. Dez 2021, 10:48
Taksim hat geschrieben:
Do 9. Dez 2021, 09:41
Aber manche Abzweigung wirkt doch häufiger arg zum Selbstzweck oder als literarische Übung und nicht als Teil eines kohärenten Werks.
Witzig, ich hatte genau dasselbe geurteilt:
Monkeyson hat geschrieben:
So 8. Okt 2017, 12:05
Schon toll geschrieben, aber es ist [...] ganz so, als hätte man sich durch eine mit lauter Kostproben gespickte Bewerbungsmappe für die Position als Schriftsteller gearbeitet.
Hab leider nicht durchgehalten und kann daher das Positive nicht ebenso unterstreichen.
Apropos durchhalten: wird Catch 22 noch besser, oder ist das auch so ein "Unendlicher Spaß"? Scheint mir nach 40 Seiten eher letzterer zu sein.

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Quadrophobia » Mo 21. Mär 2022, 21:05

Muss bei Infinite Jest auch mal einsteigen. Ich hab nach etwas mehr als einem Viertel auch das Gefühl, Ständig überfordert zu sein, was mich immer wieder zum Abbruch bewegt. Dafür ist mein Englisch einfach nicht gut genug.
Aber ansonsten find ich das Buch klasse. Der Humor, die Charaktere, die dunklen Passagen, die Liebe zu bzw Obsession mit Details, die Weitsicht und nicht zuletzt die frenetic der Tennis Beschreibung sind den Aufwand imho wert. Ich lege es jetzt trotzdem erst mal beiseite.


Zwischendurch hab ich „Ich werde da sein, im Sonnenschein und im Schatten“ das letzte was mir von Christian Kracht noch fehlte, gelesen. Konzeptuell spannend, sprschlich gewohnt stark, realisiert das Buch irgendwie nicht sein Potential. Hatte das gleiche Problem schon mit „Die Toten“. Neben seinen Meisterwerken einfach nicht mehr als gut

Eher im politischen Bereich ist „Influencer. Die Ideologie der Werbekörper“ von Ole Nymoen und Wolfgang M Schmitt. Gewohnt zugänglich und trotzdem treffend kritisch nimmt das Buch die influencer Ökonomie auseinander und seziert warum sie so ideologisch ist und welche Funktion sie im spätkapitalismus hat

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Taksim » Di 22. Mär 2022, 09:51

Monkeyson hat geschrieben:
So 20. Mär 2022, 22:55
Monkeyson hat geschrieben:
Do 9. Dez 2021, 10:48
Taksim hat geschrieben:
Do 9. Dez 2021, 09:41
Aber manche Abzweigung wirkt doch häufiger arg zum Selbstzweck oder als literarische Übung und nicht als Teil eines kohärenten Werks.
Witzig, ich hatte genau dasselbe geurteilt:
Monkeyson hat geschrieben:
So 8. Okt 2017, 12:05
Schon toll geschrieben, aber es ist [...] ganz so, als hätte man sich durch eine mit lauter Kostproben gespickte Bewerbungsmappe für die Position als Schriftsteller gearbeitet.
Hab leider nicht durchgehalten und kann daher das Positive nicht ebenso unterstreichen.
Apropos durchhalten: wird Catch 22 noch besser, oder ist das auch so ein "Unendlicher Spaß"? Scheint mir nach 40 Seiten eher letzterer zu sein.
Hab es kürzlich gelesen. Ich würde sagen, der Stil sowohl sprachlich als auch strukturell, was die Sprünge zwischen den vielen Charakteren angeht, zieht sich durch. Wenn dir das nicht gefällt, wird sich daran nicht viel ändern. Zum Ende entwickelt es sich zu einem etwas verdichteteren Narrativ, aber wirklich eine tiefe Verbindung baute ich bis dahin auch nicht zu den Charakteren auf, obwohl noch sehr dramatische Dinge passieren. Dafür ist der Ton halt zu satirisch und distanziert. Den Humor und die verschiedenen Beispiele für den "Catch-22" fand ich schon gut, aber im Großen und Ganzen kann ich nicht behaupten, dass ich begeistert war.

Momentan hole ich mit "Herr der Fliegen" einen anderen Klassiker nach und der zieht mich doch bedeutend mehr. Wie quasi eine Gesellschaft langsam von Kindern aufgebaut wird ist spannend zu verfolgen. Die kindliche Fantasie, die deren Wahrnehmung massiv beeinflusst, ist auch toll eingesetzt.
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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Monkeyson » Mi 23. Mär 2022, 08:58

Quadrophobia hat geschrieben:
Mo 21. Mär 2022, 21:05
Muss bei Infinite Jest auch mal einsteigen. Ich hab nach etwas mehr als einem Viertel auch das Gefühl, Ständig überfordert zu sein, was mich immer wieder zum Abbruch bewegt. Dafür ist mein Englisch einfach nicht gut genug.
Wäre das auf Deutsch ne Option für dich? Finde das im Literarischen nicht problematisch, zumindest bei fähigem Übersetzer nicht. Wenn man sich anschaut, dass und wie bspw Nicht-Nobelpreisträger Pynchon von Nobelpreisträgerin Jelinek übersetzt wurde.

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Re: Was lest ihr gerade?

Beitrag von Taksim » Fr 8. Apr 2022, 13:57

Nach "Unendlicher Spaß" habe ich nun David Foster Wallaces vielleicht zweitbekannteste Veröffentlichung A Supposedly Fun Thing I'll Never Do Again gelesen (mit dem ziemlich dämlichen deutschen Titel: "Schrecklich amüsant - aber nächstes Mal ohne mich"; Mal ernsthaft, das klingt, als wäre es von Hape Kerkeling oder so)

Dabei handelt es sich um eine Zusammenstellung von Artikeln und Essays, die er für verschiedene Magazine geschrieben hat. Das Themenspektrum wirkt erstmal so weitreichend wie willkürlich - detaillierte Analysen des Spielstils eines aufstrebenden Tennisprofis, ein minutiöser Bericht über die Iowa State Fair, Abhandlungen über das Verhältnis von Fernsehen und Literatur und die Rolle der Ironie, die titelgebende (und wohl bekannteste) Reportage von einer Kreuzfahrt - doch es ist ganz spannend zu sehen, wie viele dieser thematischen Schwerpunkte auch in "Unendlicher Spaß" zum Tragen kommen.
Selbst wenn man als Leser meint, ein Thema wäre nicht so verlockend, lohnen sich die Essays, da er immer weit über das Kernthema hinausgeht (ein Abschnitt in der Reportage über den Dreh von Lynchs "Lost Highway" nennt sich "The only section of this article that is really in any way behind the scenes"), aber auch sehr akribisch die Details des Umgebung und vor allem der Menschen, die er trifft, beschreibt. In diesen treffenden Beobachtungen kann er seinen scharfen Witz voll ausspielen.

Sonst stellt er die Dinge sehr anregend in einen größeren Kontext und vermittelt eine Menge kluge Einblicke. Die Reportagen über die State Fair und die Kreuzfahrt haben aber auch ein tief-trostlosen Charakter, wie sie in ihrer Pointiertheit beschreiben, womit Menschen versuchen, etwas Bedeutungsvolles in so einer gekünstelten, hyperdurchorganisierten Umgebung zu finden, was vermuten lässt, wie leer ihr Leben sonst ist. Diese beiden Texte hinterlassen den bleibendsten Eindruck würde ich sagen.

Anschließend an unsere Diskussion über "Unendlicher Spaß" würde ich dieses Buch auch jedem empfehlen, der mit dem Mammutwerk liebäugelt, aber sich noch nicht ganz sicher ist, ob er oder sie es wirklich angehen will. Eine Art Lackmustest sozusagen. Alles in allem ist dieser Band sehr viel stringenter, zugänglicher und klarer geschrieben als der Roman, aber so vieles, weshalb das Werk von manchen gefeiert und von manchen verteufelt wird, findet sich hier in einer Art Light-Version: das von Fremdworten geprägte, ausufernde Vokabular, die obskuren popkulturellen Referenzen, die seitenlangen Fußnoten mit eigenen Fußnoten, die erwähnte Akribie in der Detailbeschreibung, die metaphernreiche Illustration skurriler Charaktere und noch vieles mehr.
Deshalb würde ich befinden, wenn einem das hier schon zu viel wird, könnte es mit "Unendlicher Spaß" erst recht schwierig werden. Allerdings jedem, der eine ganz eigene Art des journalistischen und analytischen Schreibens lesen will und erst recht jedem, der "Unendlicher Spaß" mochte, ist dieser Band sehr ans Herz zu legen.
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