Was war euer bestes Konzert in diesem Jahr?
Zwei Bands, die ich zuvor nie verstärkt wahrgenommen habe, haben in 2022 ihre 2021 erschienenen Alben betourt, die bei mir im Jahresranking jeweils ganz vorne gelandet sind und sie könnten gegensätzlicher kaum sein:
Turnstile und
Low.
Turnstile spielten einen ausverkauften Gig im Palladium in Köln und ab dem Opener "MYSTERY" war das die Party des Jahres! Die ganze Halle war ein großer Pit, die Leute hatten Spaß, kein Violent-Dancing, einfach nur toll! Die wenigen Ruhepausen waren dringend notwendig, sonst hätte ich den Gig bestimmt nicht durchgehalten. Die Fans von früher vermissen bestimmt das typische HC-Chaos und auch mir sind kleinere Läden natürlich lieber (bin ich überhaupt kein Fan vom Palladium). Aber die Songs sind einfach gemacht für die große Bühne und die Band fühlt sich dort auch sichtlich wohl.
Low spielten ebenfalls in Köln, aber in der Kulturkirche, also ein komplett anderes Setting. Ich hätte nicht gedacht, dass man die geniale BJ Burton-Produktion von "HEY WHAT", die auch komplett gespielt wurde, live so gut rekreieren kann. So ganz kann ich die Musik von ihnen nicht ganz greifen mit ihrem Noise/Industrial/Drone/Ambient/whatever-Mischmasch, untermalt vom harmonischen Gesang des Ehepaars Parker, aber es gibt wenig, was mich in den letzten Jahren musikalisch so mitgenommen hat. Danach gab es einen Cut und in der zweiten Hälfte des Sets ein Best-of aus dem bisherigen Schaffen der Band. Die Harmonien blieben gleich, der musikalische Unterbau im bandtypischen Slowcore-Stil war jedoch ein komplett anderer. Obwohl ich diese Songs teilweise nicht kannte, war das schon sehr berührend und vor allem für einige ältere Zuschauer:innen neben mir ziemlich emotional. Mit dem Tod von Mimi Parker hat der Gig natürlich noch eine ganz andere emotionale Tragweite, sodass ich froh bin, die Chance für diesen Gig nochmal ergriffen zu haben.
Welcher Act hat euch positiv überrascht, bei dem ihr es vorher gar nicht erwartet hattet oder den ihr vorher gar nicht kanntet?
Da das Primavera gefühlt 5x am Tag den Timetable über den Haufen geschmissen hat, waren einige von mir geplante Gigs auf einmal nicht mehr realisierbar, sodass ich plötzlich bei
The Weather Station stand. Ich hatte die 2021-Platte zwar ein paar Mal gehört und fand auch einige Songs ganz cool, aber live hat mich das ziemlich umgehauen, sodass ich zwischenzeitlich sogar die nervigen Beats des Boiler Rooms ignorieren konnte, die während des ganzen Konzerts rübergestrahlt sind. Meine Freundin war auch echt begeistert.
Bei
Genesis Owusu (ebenfalls Primavera) kannte ich zwar die Songs und hatte auch ziemlich Bock auf den Auftritt, hatte aber nicht damit gerechnet, was für eine energetisch die Performance hier abgeliefert werden würde. Wer es schafft, mitten in der spanischen Hitze Leute zum Pogo zu überreden, macht irgendetwas verdammt richtig.
Welcher Auftritt hat euch enttäuscht? Und woran lag es?
Wolf Alice in der Kantine Köln war für mich eine mittelschwere Katastrophe. Durch Zugausfälle und Verspätungen kam ich erst 2 Minuten vor Beginn des Haupt-Acts an, war super gestresst und hatte aufgrund des Ausverkaufs einen ziemlich beschissenen Platz direkt neben der Theke mit viel Durchgangsverkehr. Abschalten war nicht möglich, in Gedanken war ich schon meine (zum Glück etwas weniger chaotische) Rückfahrt am Planen. An der Band lag es aber nicht und außer mir hatte auch vermutlich jeder viel Spaß an dem Abend.
Ansonsten ist bei
Drain und
Vein.fm auf dem Full Force der Funke nicht übersprungen. Der Sound war eher mies, die Luft ziemlich staubig und so richtige Stimmung kam keine auf. War vermutlich auch das falsche Publikum für solche Bands.
Welches Konzert war generell am schlechtesten?
Bei den
Gorillaz auf dem Primavera waren die Rahmenbedingungen sehr ungünstig. War unser erster Gig bei den Hauptbühnen und obwohl wir schon während Interpol rein sind, war es super voll und eng und die Stimmung war ebenfalls schlecht. Nach 5 Songs sind wir raus und haben uns weit hinten vor der Video-Leinwand platziert. Da war natürlich abseits der großen Hits auch keine Stimmung und gerade der Mittelteil bestand nur aus (mMn) langweiligen "Plastic Beach"-Random-Tracks. Da haben definitiv einige Sachen von "Demon Days" gefehlt. Ein besserer Platz hätte hier vielleicht etwas geholfen, aber das Ruder bestimmt auch nicht herumgerissen.
Bei
Remi Wolf einen Tag später hatte ich mir auch mehr erhofft, auch wenn sie durch ihr Charisma wieder viel wettgemacht hat.
Welcher Act hatte die beeindruckendste Bühnenshow?
Dua Lipa in der Kölner Lanxess-Arena steht natürlich ein paar Stufen über allen. Perfekt durchchoreographierte Show, je nach Song unterschiedliches thematisches Konzept, Outfitwechsel, separate als Disco dekorierte B-Stage eine Schwebeeinlage zu
"Levitating" und ein aufblasbarer Riesen-Hummer! Das ist nur schwer zu toppen. Ich habe keinen Vergleich zu anderen Pop-Show-Produktionen, aber das war schon ziemlich beeindruckend und wirkte auch nie zu überladen.
Ansonsten fand ich die Bühnenshows von
Low und
Fontaines D.C. sehr stimmig umgesetzt. Und
Celeste mit ihren roten Stirnlampen boten auch einiges fürs Auge.
Was war der schönste, skurrilste oder verrückteste Live-Moment in diesem Jahr? Wann hattet ihr am meisten Gänsehaut?
Der schönste Live-Moment war bei
Fred again.. auf dem Primavera. Seine Songs sind in meinem Kopf so sehr mit der Pandemie und einigen echt beschissenen Tagen und Monaten verknüpft, sodass ich bei
"Dermot (See Yourself in My Eyes)" und
"Julia (Deep Diving)" echt kurz davor war, loszuflennen. Wenn man einfach realisiert, dass man diese (und viele weitere) Songs, die man zwei Jahre nur beim endlosen Rumliegen daheim hören konnte, jetzt endlich mit vielen Menschen live genießen kann. War glaube ich für viele im Publikum ne emotionale Geschichte. Die Songs triggern das einfach. Meiner Freundin, die zur Musik von ihm vorher gar keinen Bezug hatte, ging es auch ähnlich. Einfach schön, wie Musik nach so vielen Jahren des exzessiven Genusses immer noch sowas mit einem anstellen kann.
Skurril oder anders gesagt einfach nur schlecht war der Auftritt von
Jay Electronica auf dem Primavera. Passt eigentlich auch in die Enttäuschungs-Kategorie. Da hat sich vor dem Gig niemand auch nur 2 Minuten Gedanken gemacht, wie man einen für das Publikum zufriedenstellenden Live-Gig umsetzen möchte. Die DJane spielte einfach die Originalaufnahmen, ohne dass die Vocals auch nur minimal gemutet sind und Jay Electronica rappte hin und wieder über drüber, wenn er gerade Lust drauf hatte. Aber eigentlich hatte Jay nicht so viel Lust auf Rappen, sondern schmiss lieber Dinge ins Publikum, u. a. Hut, Sonnenbrille, Klamotten, Teile des Bühnenequipments (!) und seine beiden Mikros (!). Wenn gerade nichts zum Schmeißen verfügbar war, ging er selbst ins Publikum und ließ sich für seine beschissene Performance und dümmlichen Ansagen abfeiern. Irgendwann kam er auf die Schnapsidee, die Leute sollen doch die Barrieren stürmen und zu ihm auf die Bühne kommen; ein Move, der natürlich zielsicher zum Muten des (zu diesem Zeitpunkt noch nicht ins Publikum geschmissenen) Mics und zur Unterbrechung des Auftritts führte. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren alle Personen wieder im Publikum (Jay inklusive), es gab noch einen letzten Song und einen immerhin ganz guten Acapella-Part, der auch viel besser klingt, wenn nicht im Hintergrund die Vocals der Originalaufnahme durchblöken. Danach dann Abschied und tschüss und das 30 Minuten zu früh. Muss man mit den ganzen Verzögerungen auch erst mal schaffen. Meine Freundin hat mich nur schief angeschaut und gemeint "Und dafür mussten wir jetzt bei Griff früher abhauen und einmal das halbe Gelände durchqueren?". Ich hatte darauf auch keine passende Antwort mehr. Ami-Rapper ey...
Verrückt (wenn auch nicht einzigartig) war der verstörte Blick des netten Mitte-40-Ehepaars beim Celeste-Konzert in Wiesbaden bei den ersten Tönen der Vorband
Conjurer. Ich war durch andere Berichte hier schon vorgewarnt, dass einige Casual-Hörer Opfer dieser Verwechslung geworden sind, aber es macht dennoch besonders viel Spaß, wenn man es live miterlebt.
Immerhin haben sie es mit Humor genommen und immerhin noch brav einen Song der (falschen) Celeste mitgenommen.
Welches Konzert habt ihr verpasst und bereut es im Nachhinein? Warum wart ihr nicht da?
Nach den positiven Berichten hier hätte ich mir gerne die Show von
Kendrick Lamar in Frankfurt angesehen, auch wenn mich das neue Album nur vereinzelt überzeugen konnte. Leider habe ich zu lange gewartet und auf sinkende Zweitmarktpreise gehofft. Im Endeffekt war die Show sold out, im Netz gab es nichts mehr zu vertretbaren Preisen. Ich bin trotzdem zur Halle gefahren und abgesehen von 2 zwielichtig aussehenden Typen wollte einfach niemand sein Ticket loswerden, sodass ich enttäuscht wieder den Heimweg antreten musste.
Mein 2019 erworbenes
Rammstein-Ticket für Zürich musste ich schweren Herzens wieder verkaufen, weil meine Mitfahrer alle abgesprungen sind. Wäre mir alleine zu weit gewesen und es war eh schon eine stressige Phase.
Ebenfalls verkaufen musste ich mein
Graspop-Ticket, weil einer meiner besten Freunde dort seinen JGA (der eigentlich mehr ein Kurzurlaub war) gefeiert hat. Gerade auf eine Deftones-Show mit dem starken letzten Album hatte ich mich sehr gefreut. Im Endeffekt lag ich während des JGA mit Corona im Bett. War also eh alles egal.
Hab eh schon zu viel geschrieben. Daher hier noch mein restliches Live-Ranking im Spoiler:
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3. The War on Drugs - Schlachthof, Wiesbaden
Es ist nicht leicht mit mir und TWOD. Bei meinem bisher einzigen (Festival-)Gig von ihnen bin ich eingeschlafen. Lange konnte ich die Genialität, die viele in ihnen sehen, nur teilweise nachvollziehen. Im Schlachthof war das aber eine unglaublich fesselnde Angelegenheit. Sich in Songs so richtig fallenzulassen und zu verlieren, das gelingt mir nur bei wenigen Bands. An diesem Abend war es so. Großartige Band, toller Sound, entspanntes Publikum. Schön, dass es zwischen mir und dieser Band dann doch noch gefunkt hat.
4. Die Nerven - Kesselhaus, Wiesbaden
Das letzte Konzert des Jahres für mich (und für Die Nerven ebenfalls) und direkt ein Jahreshighlight. Dank Kleinanzeigen 5 Stunden vor Show-Beginn noch ein Ticket geschossen, noch etwas geschwächt von den letzten verbliebenen Corona-Symptomen, aber ab den ersten Tönen von
"EUROPA" war alles vergessen. Ob Hit-lastige aktuelle Songs, die krawallige Frühphase oder tanzbar wie in
"Barfuß durch die Scherben", die Band weiß, wie man Post-Punk im Jahr 2022 live zu klingen hat. Dazu einige unverhofft witzige Ansagen und Kevin, der an den Drums den Band-Clown gibt. Bestes deutsches Album 2022! beste deutsche Band 2022!
5. HEALTH - Kesselhaus, Wiesbaden
Der Gig 2019 in Frankfurt war schon sehr gut, diesmal war es noch besser. Ein ordentlich gefülltes Kesselhaus, ein sehr euphorisches Publikum, sogar der eine oder andere Pit, das waren die wesentlichen Unterschiede, die diesen Auftritt noch mehr glänzen ließen. Das Wissen, dass es noch andere Leute gibt, die diesen verrückten Industrial/EBM/Synthpop/Noise/Post-Punk-Stilmix genauso abfeiern. Die Band gab auf der Bühne alles. Ein sehr intensiver Gig.
6. Dua Lipa - Lanxess Arena, Köln
Eine perfekt durchkonzipierte Pop-Show mit Choreographien und aufwendigen Show-Elementen fehlte mir noch auf meiner Bucket-List. Aber hier stimmte zum Glück auch die musikalische Untermalung. Im Mainstream-Pop wurde in den letzten Jahren nichts besseres geboten. Ein paar mehr Hits von Debüt hätten es gerne noch sein können, aber auch so war das ganz ganz groß. Und das alles ohne dynamic pricing, FOS usw. Ein sehr sympathischer Auftritt von einem der aktuell größten Pop-Stars.
7. Charli XCX - Primavera Sound (Weekend 2)
Auch hier war viel durchchoreographiert, im Vergleich zu Dua sogar noch aufwendiger, aber im Show-Konzept deutlich kleiner konzipiert. Das tat der Stimmung keinen Abbruch. Ob energetischer Dance-Pop der aktuellen Platte oder Hyperpop-Banger wie
"Vroom Vroom", um mich herum war kollektives Ausrasten und lautstarkes Mitsingen angesagt. Mit
"Gone" auch endlich meinen liebsten Pop-Song der letzten Jahre live erlebt. Ganz viel Liebe
8. Denzel Curry - Union Halle, Frankfurt
Die Location war hässlich, die Luft stickig und ich auch schon leicht angesoffen. Was kann da noch schiefgehen? Einer der besten aktuellen Rapper zündete ein Hit-Feuerwerk. Niemand vereint aktuell Rap-Spielarten wie 90er-Boombap, moderner Trap und dreckigem Dirty South so gut wie er. Der Mann kann einfach alles. Während in der ersten Hälfte noch zu den hauptsächlich neuen Songs mit dem Kopf genickt und die Schulter trainiert wurde, ging es ab
"Threatz" in den Moshpit. Und Denzel selbst: Was für ein Energiebündel und das alles ohne Back-up-MC und (bei Rap-Shows leider gängigem) Playback. Eine der besten Rap-Shows, die ich je gesehen habe.
9. Jessie Ware - Primavera Sound (Weekend 2)
Der perfekte Abschluss des Primaveras. Um mich herum lauter LGBTQ-Menschen, die tanzten, als hätten sie keine (mindestens) 3 anstrengenden Festivaltage hinter sich, und eines der besten Pop-Alben der letzten Jahre abfeierten. Jessie Ware trifft mit ihrem Nu-Disco den Zeitgeist und überzeugte mit einer starken Performance. Spätestens zu
"Remember Where You Are" lagen sich dann alle begeistert in den Armen.
10. Knocked Loose - Schlachthof, Wiesbaden
Die Band übertraf den Hauptact STYG um Längen. Was für eine Aggression, was für Breakdowns, was für Dissonanzen. Musik wie gemacht für den Pit und zum Glück ging hier einiges ab. Ich finde es immer noch faszinierend, dass Knocked Loose mit diesen scheinbar strukturlosen, brutalen Songs und dem doch speziellen Gesang so große Erfolge feiern, aber es sei ihnen gegönnt. Eine der aktuell spannendsten Band in der Schnittmenge von Hardcore und Metalcore.
11. Bicep - Zoom, Frankfurt
12. Fred again.. - Primavera Sound (Weekend 2)
13. Nothing but Thieves - Schlachthof, Wiesbaden
14. Genesis Owusu - Primavera Sound (Weekend 2)
15. Alex G - Kesselhaus, Wiesbaden
16. Little Simz - Zoom, Frankfurt
17. Lorde - Primavera (Weekend 2)
18. Fontaines D.C. - Schlachthof, Wiesbaden
19. Celeste - Kesselhaus, Wiesbaden
20. Dave Hause and the Mermaid - Batschkapp, Frankfurt
Probs gehen wie immer an den Schlachthof Wiesbaden raus, die wie in jedem Jahr mit sehr starkem Booking überzeugen konnten. Ich plane, es in diesem Jahr showtechnisch etwas ruhiger angehen zu lassen. Mal schauen, was von diesem Vorsatz im Endeffekt übrig bleiben wird, da mittlerweile auch schon ein Festival und 8 Shows fest eingeplant sind. Wird bestimmt wieder ein schönes Konzertjahr 2023.